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 Wie viel Optimismus darf es sein?
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Optimismus
Wie viel Optimismus darf es sein?

Positiv denken: Ratgeberliteratur und Beiträge in den sozialen Netzwerken bieten vermeintliche Schlüssel für ein unbeschwertes und erfolgreiches Leben. Gibt es bessere Alternativen?

Elí Diez-Prida
Autor, Verlagsleiter i. R.

Ein Hund betritt den Tempel der tausend Spiegel. Aus Angst knurrt er furchtbar und fletscht die Zähne. Tausend Hunde machen es ihm nach. Er rennt voller Panik aus dem Tempel und glaubt von nun an, die ganze Welt bestehe aus knurrenden und gefährlichen Hunden. Ein anderer Hund betritt ebenfalls den Tempel der tausend Spiegel, freut sich, wedelt mit dem Schwanz und springt fröhlich. Tausend Hunde freuen sich mit ihm. Als dieser Hund den Tempel verlässt, ist er der Überzeugung, die ganze Welt bestehe aus freundlichen Hunden, die ihm wohlgesonnen sind.

Diese kleine Geschichte aus Indien soll gleichnishaft etwas verdeutlichen: Es ist nicht immer und nicht ausschließlich die Wirklichkeit, die darüber bestimmt, ob wir optimistisch in die Welt blicken oder pessimistisch durchs Leben gehen. Es ist vielmehr die Art und Weise, wie wir die Wirklichkeit deuten, was das Weltbild des Optimisten von dem des Pessimisten unterscheidet.

Eine Frage der Brille? Der Gene?
Es gäbe eine einfache Alternative: die rosarote Brille aufsetzen, dann wird alles gut und hell! Einfach schon, aber billig, unrealistisch und gefährlich. Deshalb mag ich die Ratgeber zum Thema «Positives Denken» nicht, die zuhauf im Buchhandel zu finden sind – genauso wenig wie die Sprüche, die unter demselben Label in den sozialen Netzwerken verbreitet werden.

«Positives Denken allein hilft nicht weiter», erklärt der Familientherapeut Gerhard Vogel. «Die in der amerikanischen Psychologie verwurzelte Vorstellung, dass wir schon Veränderungen herbeiführen können, wenn wir nur guter Dinge bleiben, ist irreführend.»1 Gerade auf gutgläubige, labile und zu Depression neigende Menschen können sich diese Erfolgsversprechen schädlich auswirken.

Es ist nicht eine Frage der Brille, sondern der inneren Haltung, der grundsätzlichen Lebenseinstellung, für die wir uns entschieden haben. Sie bestimmt, ob wir die Umstände lebensbejahend und zuversichtlich deuten oder nicht. Manche scheinen die geborenen Optimisten zu sein. Jemand formulierte ironisch: «Bei einem Berufsoptimisten kann man schon mal schwarz werden, bevor dieser schwarzsieht.» (Thom Renzie)

Viele meinen, dass uns die Neigung in die eine oder andere Richtung in die Wiege gelegt wird, also genetisch vorgegeben ist. Zwillingsstudien zeigen allerdings, dass eine optimistische oder pessimistische Lebenshaltung nur zu etwa 25 Prozent angeboren ist. Eine wichtigere Rolle spielt die Erziehung. Auch die religiöse Erziehung.

Alle Tage Sonnenschein?
Der Glaube an das Gute im Menschen und an einen fürsorglichen Gott spielt eine bedeutende Rolle, vorausgesetzt, es wird ein positives Gottesbild vermittelt und nicht das eines «himmlischen Oberpolizisten», der es auf unsere Fehler und auf unser Versagen abgesehen hat.

Eine lebensbejahende Haltung wird bei gläubigen Menschen dadurch gebildet und verstärkt, dass sie der göttlichen Führung vertrauen lernen und erfahren, wie dadurch Alltagssorgen und Zukunftsängste kleiner und weniger bedrohlich werden. Die Bereitschaft, anderen zu helfen, ihnen mit Mitgefühl und Empathie zu begegnen, wird die optimistische Lebenshaltung fördern. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie täglich fröhlich «alle Tage Sonnenschein» singen. Stunden der Niedergeschlagenheit gehören zum Leben, wer aber mit der Hilfe von außen und oben rechnet, findet auch schneller wieder heraus und bleibt nicht im Hegen und Pflegen der Niedergeschlagenheit hängen. Verschiedene Situationen mögen dazu führen, skeptisch und kritisch zu sein. Ein gesundes Maß an Optimismus wird jedoch unser Leben und das der Menschen, die uns nahestehen, erleichtern.

Eine lebensbejahende Einstellung können wir auf mancherlei Weise ganz praktisch fördern:

  • Täglich mindestens einen Grund finden und möglicherweise aufschreiben, wofür wir dankbar sein können.
  • Eine positive Ausdrucksweise pflegen und negative Worte meiden.
  • Die Nähe zu lebensbejahenden und fröhlichen Menschen suchen.
  • Vermeiden, sich ständig mit anderen Menschen zu vergleichen. Das Vergleichen mit anderen Menschen kann Frust und Unzufriedenheit erzeugen. «Das größte Hindernis auf dem Weg zur Erfüllung ist der Vergleich.» (Benjamin Ferencz)
  • Ermutigende Zitate und motivierende Sprüche sammeln, wiederholt lesen und darüber nachdenken.

Zuversichtlich der Zukunft entgegen
Wenn es um die Zukunft geht, spricht mich eine Einstellung besonders an: die der Zuversicht. Der Optimist ist darauf fokussiert, dass eine Situation positiv ausgeht. Die Zuversicht hingegen lebt im Wissen: Das, was ich jetzt tue, hat einen Wert an sich und deswegen tue ich es mit innerer Überzeugung – unabhängig davon, wie erfolgreich der Ausgang ist. Es gibt dazu ein schönes Zitat von Vaclav Havel: «Es geht nicht um die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern um die Gewissheit, dass etwas sinnvoll ist, egal wie es ausgeht».

Eine von Zuversicht geprägte Person blendet negative Erlebnisse oder Befürchtungen nicht aus, verbannt sie nicht hinter Schloss und Riegel, sondern fragt sich, was sie daraus lernen beziehungsweise auf welche Ressourcen sie zurückgreifen kann, um realistisch ihre Lebensziele weiterverfolgen zu können.2 Hoffnungs- und vertrauensvoll zu sein bedeutet nicht, dass alles verklärt und unrealistisch wird. Wer zuversichtlich denkt und fühlt, bleibt ein Realist, weiß aber auch, aus welchen Kraftquellen sich Ermutigung, Trost, Motivation und Schwung für einen neuen Versuch oder gar einen ganz neuen Anfang schöpfen lässt. Natürlich fällt es einem Menschen leichter, zuversichtlich zu sein, wenn er sich selbst angenommen hat, so wie er ist. Wer sich nicht ständig seinen Wert beweisen muss, wird viel leichter das Gute, Lobenswerte und Entwicklungsfähige an seinen Mitmenschen wahrnehmen und sich darüber freuen können.

Irgendwann, spätestens im Alter, wird der Erfolg, den man in Gesellschaft und Beruf gehabt hat, einen Menschen nicht mehr zur Gänze erfüllen. Erfolg reicht nicht aus, um das Bedürfnis nach dem Lebenssinn zu befriedigen. Die Werte, die wir gelebt haben, das Gute, das wir zutage gebracht und gefördert haben, die Menschen, die wir positiv geprägt und begleitet haben – das ist es, was dann zählen wird, wenn wir unser Leben Revue passieren lassen.

Bis ins hohe Alter?
Ich kenne ältere Menschen, die Lebensfreude, Dankbarkeit und Zuversicht ausstrahlen. In ihrer Nähe fühlt man sich wohl und kann regelrecht auftanken. Bei anderen spürt man eine abschreckende Verbitterung und Resignation. Ob das auch damit zusammenhängt, was wir in unserem «Lebensspeicher» (im Herzen, im Kopf oder wo auch immer) aufbewahren?

Folgende Begebenheit bestärkt mich darin: Zwei schwerkranke Männer teilten sich ein Krankenhauszimmer. Sie mussten strenge Bettruhe halten, unterhielten sich daher umso reger miteinander. Jeden Nachmittag gab es einen Höhepunkt: Der Mann am Fenster durfte sich eine Stunde lang im Bett aufsetzen, und in dieser Zeit erzählte er dem anderen Patienten, was sich draußen abspielte. Er schilderte den Park am Krankenhaus, den kleinen Teich, auf dem Enten herumpaddelten. Er beschrieb die Jungs, die ihre kleinen Papierboote zu Wasser ließen, die Liebespaare, die eng umschlungen am Ufer entlang schlenderten und vieles mehr.

Während der ältere Patient erzählte, schloss der andere die Augen und fühlte sich in die bunte, lebendige Welt da draußen versetzt, und er begann, diese eine Stunde an jedem Tag sehnsüchtig zu erwarten. Eines Morgens stellte die Krankenschwester fest, dass der Mann am Fenster in der Nacht gestorben war. Ein paar Stunden später fragte der andere Patient, ob er nun den Platz am Fenster haben dürfte. Die Schwester schob sein Bett hinüber und schüttelte sein Kissen auf, so dass er etwas höher lag. Erwartungsvoll drehte er den Kopf zum Fenster – aber er sah nichts als eine graue Wand. «Aber wieso hatte der andere Patient dauernd von diesem Park erzählt mit dem Ententeich, den Blumen und den spielenden Kindern?», fragte er fassungslos. Die Schwester erwiderte liebevoll: «Er hat Ihnen seine Welt geschildert, so wie er sie kannte, wie er sie gespeichert hatte und immer noch wahrnahm. Nicht die Mauer war für ihn real, sondern das, was er in früheren Jahren erlebt hatte. Übrigens, dieser Patient war seit vielen Jahren blind!»

Das, womit wir uns ein Leben lang beschäftigt und was wir gespeichert haben, wird uns prägen – bis ins hohe Alter. Es wird darüber entscheiden, ob wir auch in schweren Zeiten eine zuversichtliche und lebensbejahende Haltung beibehalten. Menschen, die sich täglich für die Hoffnung und das Positive im Leben entscheiden, sehen weiter. Menschen, die Wertschätzung und Dankbarkeit praktizieren, sehen tiefer. Menschen, die Selbstannahme und Zuversicht aus dem Glauben schöpfen, sehen alles in einem helleren Licht.

Quellen:
1 https://ogy.de/positivesdenken (abgerufen am 6.4.2023). Vgl. auch das Buch von Günter Scheich «Positives Denken macht krank. Vom Schwindel mit gefährlichen Erfolgs­versprechen», Eichborn-Verlag, 2001. 2 Siehe dazu: Ulrich Schnabel, «Zuversicht: Die Kraft der inneren Freiheit und warum sie heute wichtiger ist denn je», Karl Blessing Verlag, 2018.

 

 

 

 

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