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Essen feiern
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Ernährung
Essen feiern

Der Saal ist geschmückt, die Tische festlich gedeckt, Blumen versprühen ihren Charme, Kerzen leuchten und verheißungsvolle Düfte ziehen durch den Raum. Nun fehlen nur noch die Gäste, und das Fest kann beginnen.

Bettina Werner
Physiotherapeutin, Gesundheitsberaterin beim Deutschen Verein für Gesundheitspflege e.V.

Dem Trend folgen?
Mit Feiern verbinden wir irgendwie immer einen besonderen Anlass: Hochzeit, Geburtstag, Weihnachten … Warum eigentlich? Essen an sich ist doch etwas wirklich Schönes, das wir jeden Tag feiern könnten. Was hält uns davon ab? Diese Frage hat mich beschäftigt und nach Antworten suchen lassen. Dabei ist mir einiges klargeworden, was ich – wahrscheinlich wie viele andere auch – unbewusst praktiziere. Zum einen habe ich den Eindruck, dass wir im Alltag Fast Food und Stehimbiss den Ton angeben lassen. Alles muss schnell und bequem zu erledigen sein. Zeit ist Geld! Wie oft habe ich mich schon dabei erwischt, etwas nebenbei in den Mund zu stecken und mich eine Weile später zu fragen, was das denn eigentlich war. Zum anderen ist mir die Selbstverständlichkeit des Konsums aufgefallen. Sie ist eine Falle, in die wir in der Hitze des Alltags sehr oft tappen, mich eingeschlossen. Durch das «Alles-steht-zur-Verfügung» ist uns der eigentliche Wert nicht mehr präsent. Wir sondieren Lebensmittel nach Makellosigkeit, Frische und ständiger Verfügbarkeit. Dazu kommen nachteilige Einkaufs- und Kochgewohnheiten, falsche Lagerung von Lebensmitteln und oftmals Missverständnisse über das Mindesthaltbarkeitsdatum.

Nahrungsmittel: Bloße Materie?
Das Essen wird auf das rein Materielle reduziert. Dabei merken wir nicht, dass wir auf diese Weise eine Unmenge an Lebensmitteln verschwenden. Diese Verschwendung passiert schleichend und in verschiedenen Bereichen. Im Haushalt zum Beispiel zeigt sie sich mit dem trockenen Brot vom Vortag, dem Apfel mit einem Fleck, Resten vom Mittagessen, der braun gewordenen Banane, dem nicht lecker schmeckenden Aufstrich, dem Rest Käse – die allesamt im Mülleimer verschwinden. Das, was in einem Haushalt so unscheinbar wirkt, macht in der Summe in Deutschland jährlich eine Menge von rund 18 Millionen Tonnen Lebensmittel aus! Pro Sekunde sind das 313 Kilogramm gute und noch genießbare Nahrungsmittel, die in den Abfall wandern. Die Zahlen stammen aus einer Studie des WWF, eine der größten Naturschutzorganisationen der Welt. Mich haben diese Zahlen richtig erschreckt! Warum nur werfen wir so viele Lebensmittel weg? Dafür gibt es eigentlich nur eine Erklärung. Wir sind zu Verbrauchern geworden, denen nicht mehr klar ist, dass hinter den vollen Regalen menschliche Arbeitskraft und Ressourcen- beziehungsweise Energieverbrauch stecken. Auch heute noch muss der Bauer auf das Feld und umgraben, aussäen, jäten und hacken, gießen und pflegen, bevor er ernten kann. Dies geschieht zwar meist maschinell, aber ist immer noch mit viel Wissen, Arbeit und Kraft verbunden. Die Getreidekörner springen nicht von allein aus dem Halm in den Sack und wandern dann zur Mühle. Es ist immer noch ein langer Prozess von der Aussaat bis zum duftenden Brot im Regal beim Bäcker. Viele Hände haben dazu beigetragen, dass wir solch ein Brot in Empfang nehmen können.

Ein eigener Garten
An dieser Stelle möchte ich Ihnen von unserem schönen großen Garten mit Gewächshaus und selbstgegrabenem Brunnen erzählen. Ich bin froh, dass wir ihn viele Jahre unser Eigen nennen durften. So konnten unsere Kinder den Prozess vom Säen, Wachsen und Reifen unmittelbar vor Ort erleben. Es gab immer zu tun: umgraben, aussäen, hacken, Unkraut jäten, gießen und ernten. Karotten, Kartoffeln, Gurken, Salat, Tomaten, Radieschen, Bohnen, Kräuter, Erdbeeren, Johannisbeeren und vieles mehr – sowie Blumen. Natürlich hatten wir es manchmal auch satt, besonders, wenn nach dem Umgraben der Rücken wehtat, die Schnecken sich an den Pflanzen labten oder der Augustapfel eine Unmenge an Äpfeln hatte, die zu Apfelmus verarbeitet werden mussten. Ich sehe heute noch das Bild meiner drei Kinder vor mir, wie sie auf der Wiese sitzen und Äpfel schnippeln – sie nannten das «Kinderarbeit». Trotz der vielen Arbeit liebten wir alle unseren Garten mit seinen Bäumen, der Wiese, den Büschen und allem, was wir darin anbauten. Und dann stand ein Dienstumzug ins Haus, in eine Großstadt – unvorstellbar. In unseren Herzen machte sich Wehmut breit. Gott sei Dank fanden wir am neuen Wohnort ein kleines Stückchen, das wir uns wieder als Garten gestalten konnten. Kein Vergleich zu vorher, aber doch so wichtig für unsere Seelen. Es macht uns nach wie vor Freude, mit eigenen Händen in der Erde zu wühlen, auszusäen und zu beobachten, wie Pflanzen wachsen. Ich liebe dieses Eintauchen in die Natur, es «erdet» mich im wahrsten Sinne des Wortes. Diese unmittelbare Nähe lässt mich auf- und durchatmen, öffnet mir den Horizont, gibt mir das Gefühl des Eingebundenseins in das große Ganze, macht mich glücklich. Es öffnet mir den Blick für die Schönheit und Vielfalt der Natur, und es macht mich dankbar. Dankbar, dass ich in einem Land lebe, wo Ernte gedeihen kann, weil es Sonne und Regen gleichermaßen gibt. Dankbar, dass es Menschen gibt, die säen, pflegen und ernten. Dankbar, dass ich in Geschäften alles finde, was ich zum Leben brauche. Dankbar, dass ich genug Geld habe, um einkaufen gehen zu können. Dankbarkeit macht aus der Selbstverständlichkeit etwas Besonderes. Auch das Essenfeiern erhält so eine viel größere Dimension.

Essen mit allen Sinnen – ein Tänzchen gefällig?
Wie so oft im Leben kann man auch hier von Kindern sehr viel lernen. Ich denke da an meine einjährige Enkelin, die ich dieses Jahr im Urlaub beim selbstständigen Essen-Lernen beobachten konnte. Zuerst fixierten ihre Augen das unbekannte Etwas, dann griffen die Hände danach und drehten es in alle Richtungen. Anschließend wurde mit der Nase geschnuppert, dann kam die kleine Zunge zum Einsatz und zum Schluss erfolgte der herzhafte Biss in das neue Vergnügen. Man konnte beim Zuschauen förmlich mitschmecken. Essen mit allen Sinnen – Genuss pur. Hand aufs Herz: Wann haben Sie zum letzten Mal jeden Bissen so wahrgenommen und genossen? Es wäre doch einen Versuch wert, sich wieder mehr auf das Wesen der Nahrung einzulassen, als nur die materielle Seite zu beachten. Gerade Obst und Gemüse sind Stars der Vielfalt und Farbenpracht. Sie laden geradezu ein, sie in ihrer Ursprünglichkeit zu entdecken und zu schmecken. Sie beeindrucken mit ihrem frischen Outfit und umgarnen uns mit ihrem kecken Charme. Lassen Sie sich vom sanften Charakter der Karotte und dem blumigen Wesen des Brokkoli verführen. Starten Sie ein Tänzchen mit dem Kohl und tauchen Sie mit Knoblauch und Zwiebel in die Welt der Düfte ab. Lassen Sie sich die Saftigkeit der Birne auf der Zunge zergehen, lüften Sie das Geheimnis der Zwetschgen, schmecken Sie die süße Würzigkeit eines Apfels und verduften Sie mit einem Vollkornbrot um die Ecke. Die Welt der Nahrung ist voll mit Sinneserlebnissen. Sogar die eher unscheinbar wirkenden Kräuter haben es faustdick hinter den Blättern. Pfefferminze hat kräftiges, glattes Laub, Zitronenmelisse fühlt sich etwas pelzig an, Rosmarin ist fast etwas stachlig, Petersilie kraus gelockt und Dill zart besaitet. So verschieden ihr Aussehen, so verschieden ist auch ihr Geschmack.

Freude (Essen) teilen
Es ist einfach grandios, welche Erlebnisse auf einen warten, wenn man auf Entdeckungsreise geht. Besonders, wenn noch jemand dabei ist, mit dem man sie teilen kann. Es ist doch viel schöner, gemeinsam am Tisch zu sitzen, als allein das Essen einfach unter die Nase zu schieben. Es macht Spaß, neue Rezepte auszuprobieren, Essen gemeinsam zuzubereiten, Erfahrungen auszutauschen und bei fröhlichem Beisammensein all die leckeren Dinge zu genießen. So wird aus dem täglichen Essen ein Fest. Forscher haben den Einfluss der täglichen gemeinsamen Mahlzeiten untersucht, besonders im Hinblick auf die Familie. Was sie entdeckten, ist sehr interessant. Gemeinsame Mahlzeiten reduzieren bei Kindern das Risiko für Essstörungen und unterstützen die sprachliche und psychologische Entwicklung. Sie prägen die Werte im Umgang miteinander, aber auch im Blick auf Nahrung und Umwelt. Gemeinsames Essen geht also weit über die rein körperliche Sättigung hinaus – es ist eine wichtige soziale Handlung, bei der im Hintergrund viele Prozesse ablaufen. Wenn man diese Werte erkennt, fällt es auch viel leichter, ihnen einen zeitlichen Rahmen im Alltag einzuräumen. Es lohnt sich auf jeden Fall, es auszuprobieren.Essen feiern ist nicht abhängig von Anlässen, der Fülle von Speisen, der Raffinesse, der Rezeptur und dem Überfluss. Essen feiern bedeutet achtsame Augen, fühlende Hände, Neugier, ein staunendes Herz und Zeit. Zeit, um wirklich wahrzunehmen, zu schmecken und zu genießen. Essen feiern heißt, den Alltag aus der Alltäglichkeit herauszuheben, den Augenblick als Fest zu genießen, sich gegenseitig mit der Freude am Leben anzustecken. Essen feiern ist die Entscheidung für Dankbarkeit, die uns die Welt mit neuen Augen sehen lässt. Essen feiern ist das Entdecken der kleinen Dinge, die das Leben bereichern, es bunt und schön machen. In diesem Sinn wollen wir feiern, jeden Tag aus vollem Herzen.

 

 

 

 

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